In Venedig entsteht derzeit mit dem Mare Technopark ein wegweisendes Forschungszentrum für digitale Gesundheitstechnologien. Bei dem von Compugroup-Gründer Frank Gotthardt initiierten Projekt sollen künftig bis zu 1000 Forschende KI-Lösungen entwickeln.
Der Standort hat eine lange medizinische Geschichte und könnte idyllischer kaum liegen. Auf der berühmten Insel Lido von Venedig entsteht derzeit mit dem „Mare Technopark“ ein ambitioniertes Projekt für die Entwicklung neuer digitaler Innovationen für die Medizin. Auf dem Gelände des historischen Krankenhauses „Ospedale al Mare“ ist ein modernes Technologiezentrum geplant, in dem unter anderem KI-Lösungen entwickelt werden sollen.
Ein Leuchtturmprojekt mit deutscher Beteiligung
Hinter dem Vorhaben steht als treibende Kraft Frank Gotthardt, Gründer und Firmenpatriarch des deutschen Health-IT-Konzerns Compugroup Medical (CGM). Mit dem Mare Technopark will er einen Ort schaffen, an dem die besten Köpfe zusammenkommen, um die digitale Transformation des Gesundheitswesens voranzutreiben. Ziel ist es dabei, digitale Lösungen zu entwickeln, die Ärzten konkret bei ihrer täglichen Arbeit helfen und die Patientenversorgung messbar verbessern.
Wir verbinden hier historisches Erbe mit zukunftsweisender Technologie und schaffen dadurch nicht nur einen Forschungsstandort, sondern einen regelrechten Innovationskatalysator.
Das Projekt umfasst eine Gesamtfläche von 48 000 Quadratmetern und soll nach Fertigstellung bis zu 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen Platz bieten. Die geschätzten Investitionskosten belaufen sich auf rund 300 Millionen Euro. Als operativer Leiter wurde der ehemalige österreichische Finanzminister Gernot Blümel gewonnen, der seine wirtschaftspolitische Expertise nun in den Dienst der Gesundheitsinnovation stellt.
„Der Mare Technopark verkörpert genau die Art von privater Forschung und Medizin, die Europa benötigt, um im globalen Wettbewerb um Spitzentechnologien bestehen zu können“, betont Blümel. „Wir verbinden hier historisches Erbe mit zukunftsweisender Technologie und schaffen dadurch nicht nur einen Forschungsstandort, sondern einen regelrechten Innovationskatalysator.“
Medizinische Bildgebung als Schlüsseltechnologie
Einen Schwerpunkt des Mare Technoparks bildet die KI-gestützte Bildgebung – ein Bereich, in dem die Kombination aus maschinellem Lernen und medizinischer Expertise besonders vielversprechend ist. Die diagnostische Radiologie steht hier vor einem Paradigmenwechsel. Mithilfe von Deep-Learning-Algorithmen können heute Muster in Röntgen-, CT- und MRT-Aufnahmen erkannt werden, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Das könnte die Überlebenschancen bei vielen schweren Erkrankungen deutlich verbessern.
Die Mare AI Engine – eine hochmoderne Plattform, die als Trainingszentrum für KI-Modelle dient und speziell für den Einsatz im Gesundheitswesen konzipiert wurde – unterstützt nicht nur das Training eigener Modelle, sondern auch die Validierung bereits bestehender prädiktiver KI-Systeme. Durch die Integration longitudinaler Real-World-Daten, also medizinischer Verlaufsdaten über längere Zeiträume, kann die Plattform Frühindikatoren identifizieren, lange bevor klinische Symptome auftreten. „Das Ziel: eine signifikante Verbesserung der Überlebenschancen durch rechtzeitige Diagnostik und präventive Intervention“, so Emanuele Mugnani, der auf Seiten der CGM die Daten- und KI-Partnerschaft mit Mare verantwortet.
Aktueller Projektstand
Nach mehrjähriger Planungs- und Genehmigungsphase ist das Projekt inzwischen in der konkreten Umsetzung. Die Arbeiten für die ersten Bauabschnitte werden Ende 2025 beginnen. Die stufenweise Inbetriebnahme soll dennoch bereits in diesem Jahr beginnen, mit der Anmietung von Übergangsräumlichkeiten in Venedig, um keine Zeit für die Forschungsarbeit zu verlieren. Die Fertigstellung des ersten Bauabschnittes ist für Anfang 2028 geplant.
Dem Baustart ging eine behutsame Vorbereitung der historischen Bausubstanz voraus. Schließlich hat das „Ospedale al Mare“ eine lange Tradition als medizinisch genutztes Gelände. Ab 1870 residierte hier auf dem nördlichen Teil der Insel Lido, die die Lagune von Venedig von der Adria trennt, zunächst das Hospiz Marino. 1933 wurde es durch das Krankenhaus Ospedale al Mare Lido di Venezia ersetzt, ein Behandlungszentrum für Tuberkulosekranke. Nach 70 Jahren Betrieb wurde das Ospedale 2003 geschlossen, seitdem verfiel es zum pittoresken Ruinenmotiv für Venedig-Touristen. In der Lagunenstadt wurde viele Jahre darüber gestritten, wie das Areal entwickelt werden könnte. Bis CGM-Firmengründer Frank Gotthardt es kaufte.
Von der Prävention bis zur personalisierten Medizin
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Projekt ist die enge Verzahnung von Grundlagenforschung und praktischer Anwendung. CGM und Gotthardt wollen dabei keine Elfenbeinturm-Wissenschaft betreiben. Jede Entwicklung wird sich daran messen lassen, ob sie in der klinischen Praxis einen echten Mehrwert schafft. Daher sind auch mehrere Pilotabteilungen geplant, in denen die entwickelten Technologien unter realen Bedingungen getestet werden können. „Dazu gehören konkrete Anwendungsszenarien, in denen Algorithmen in Zusammenarbeit mit medizinischen Einrichtungen unter kliniknahen Bedingungen eingesetzt und evaluiert werden“, so Emanuele Mugnani.
Inhaltlich konzentriert sich der Mare Technopark auf vier strategische Bereiche: Präventive Gesundheitstechnologien, KI-gestützte Diagnostik, personalisierte Therapien und digitale Versorgungsmodelle. Ein besonderes Anliegen ist dabei die Entwicklung von Lösungen, die nicht nur hochpräzise, sondern auch kosteneffizient und skalierbar sind.
„Wir brauchen KI-Anwendungen, die nicht nur in hochspezialisierten Zentren funktionieren, sondern flächendeckend eingesetzt werden können“, erklärt Blümel. „Nur so können wir sicherstellen, dass die digitale Transformation tatsächlich zu mehr Gesundheit für alle führt und nicht zu einer weiteren Vertiefung bestehender Versorgungsunterschiede.“
Ein Beispiel für diesen Ansatz ist das „Predictive Health Monitoring“, bei dem KI-Systeme kontinuierlich Vitaldaten analysieren und frühzeitig auf Risikofaktoren hinweisen. Ein weiteres Projekt befasst sich mit der intelligenten Vernetzung verschiedener bildgebender Verfahren, um komplexe Diagnosen zu ermöglichen, die bislang mehrere Untersuchungen und Spezialisten erforderten.
Übertragbare Erfolgsmodelle
Die Frage, welche Lehren Deutschland aus dem italienischen Vorzeigeprojekt ziehen kann, beschäftigt auch hierzulande die Experten. In Deutschland gibt es zwar exzellente Einzelinitiativen und vielversprechende Ansätze, wie etwa das Digital Health Center der Charité in Berlin oder das Helmholtz Center for Information Security in Saarbrücken. Aber es fehlt oft an der Vernetzung, strategischen Bündelung und einem konsequent integrativen Ansatz. Im Gegensatz dazu vereint die Initiative in Venedig unter einem Dach, was in Deutschland oft auf verschiedene Standorte und Institutionen verteilt ist.
Als besonders nachahmenswert gilt das Governance-Modell des italienischen Projekts, das private Investitionen mit akademischer Exzellenz verbindet. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die konsequente europäische Ausrichtung des Mare Technoparks. Während in Deutschland häufig noch ein nationales Denken vorherrscht, haben die globalen Player aus den USA und China längst internationale Netzwerke aufgebaut. „Mit dem Mare Technopark beweisen wir, dass Europa im Bereich KI in der Medizin wettbewerbsfähig sein kann – wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen“, sagt Blümel.
Venedig steht für den Mut, Neues zu wagen, ohne das kulturelle Erbe zu vergessen.
Es ist kein Zufall, dass dieses Leuchtturmprojekt ausgerechnet in Venedig entsteht – einer Stadt, die seit Jahrhunderten als Brücke zwischen Kulturen fungiert und in der Medizingeschichte stets eine besondere Rolle gespielt hat. Bereits im 14. Jahrhundert galt die Serenissima als Vorreiterin in Sachen öffentliche Gesundheit und Quarantänemaßnahmen.
„Venedig steht für den Mut, Neues zu wagen, ohne das kulturelle Erbe zu vergessen. Genau diese Haltung brauchen wir auch in der Medizin des 21. Jahrhunderts: offen für technologische Durchbrüche, aber immer in den Diensten des Menschen“, so Gernot Blümel.
Wenn alles nach Plan verläuft, könnte der Mare Technopark bereits Ende dieses Jahrzehnts zu einem globalen Referenzpunkt für digitale Gesundheitsinnovation werden. Blümel blickt optimistisch in die Zukunft: „Was wir hier schaffen, ist mehr als ein Forschungszentrum. Es ist ein Modell dafür, wie Europa seine Stärken – exzellente Wissenschaft, hochwertige medizinische Versorgung und ethische Grundwerte – in die digitale Ära überführen kann.“
Quelle: Bernhard Führer (Freier Journalist) 2025. Thieme.