Augmented Reality – AR-Technik beim Einsatz kĂŒnstlicher Kniegelenke

In der Potsdamer Oberlinklinik kommt seit kurzem Augmented Reality zum Einsatz. Dank der Technologie sind orthopĂ€dische Eingriffe, etwa fĂŒr den Kniegelenkersatz, noch genauer und weniger invasiv.

Nur wenig Equipment ist fĂŒr mehr PrĂ€zision in der orthopĂ€dischen Chirurgie erforderlich. Eine Augmented Reality (AR) Brille und mehrere Tracker. Durch den Einsatz der Technik können beispielsweise kĂŒnstliche Kniegelenke noch prĂ€ziser ausgerichtet werden. Perspektivisch soll es auch fĂŒr Operationen an HĂŒfte und Schulter genutzt werden können. Sie ermöglichen eine noch prĂ€zisere Navigation fĂŒr den Gelenkersatz. Die Sicht durch das nĂŒtzliche Tool erinnert Chefarzt Dr. Robert Krause, Facharzt fĂŒr OrthopĂ€die und Unfallchirurgie und Ärztlicher Direktor der Potsdamer Oberlinklinik, an ein Head-Up-Display, wie man es aus Autos kennt. Anstelle der Geschwindigkeit oder anderen Fahrdaten sieht er wĂ€hrend des Eingriffs Achsen und Gradzahlen – quasi eine Navigationshilfe. 

Vieles bleibt identisch zum klassischen Verfahren. Vor der Operation werden Röntgenbilder angefertigt, Achsen vermessen und festgestellt, welche Art von Kniefehlstellung vorliegt, beispielsweise X- oder O-Beine. Sie sind hĂ€ufig bedingt durch eine Kniearthrose, durch den Knorpelverlust kommt es zunehmend zu dieser Fehlstellung. „In der Regel entwickeln die Patienten ihr X- oder O-Bein durch den Verschleiß“, erklĂ€rt Krause.

Im nĂ€chsten Schritt ermitteln die Mediziner, wie viel der Fehlstellung durch den Eingriff ausgeglichen werden kann. BerĂŒcksichtigt wird hier der PhĂ€notyp des Patienten. Ziel ist es also die „physiologisch individuelle Beinachse zu rekonstruieren“ so der Mediziner. Eine neutrale Achse von null Grad ist nicht fĂŒr jeden Patienten die ideale Lösung. „Solche Feinheiten kann man bisher hĂ€ndisch oder mit dem Auge unter der Operation nicht gut kontrollieren“ rĂ€umt Krause ein.

Smarte Technik

Ortswechsel in den OP: Hier kommen die Tracker zum Einsatz. Einer ist am OP-Tisch befestigt, um rĂ€umliche Informationen zu liefern, der zweite am Patienten beziehungsweise am Knie. Der dritte Tracker ist die Brille selbst. ZunĂ€chst wird das HĂŒftkopfzentrum referenziert, indem durch bestimmte Drehbewegungen Punkte im Raum erfasst werden. Dadurch kann die Achse berechnet werden und der eigentliche Eingriff beginnt. Durch die Brille als Navigationshilfe ist der Eingriff viel prĂ€ziser. Eine frĂŒhere Navigationshilfe, bei der der Tracker direkt mittels Schrauben am Knochen angebracht wurde, brachte ein zusĂ€tzliches Trauma mit sich und setzte sich nicht durch. Sie war auch mĂŒhseliger und komplizierter als die Navigation mittels Brille. „Diese Technik ist einfach smart“, sagt Krause, „man setzt die Brille auf und kann direkt loslegen“. Die Sicht durch die Brille haben auch alle weiteren Mitarbeitenden im OP, da das Brillenbild dank Bildschirmen ĂŒbertragen werden kann. Dadurch könne jeder die einzelnen Arbeitsschritte genau nachvollziehen.

Der Chefarzt sieht auch Vorteile gegenĂŒber der Robotik. Diese ist, was die PrĂ€zision betrifft, auf einem ebenfalls hohen Niveau. Jedoch wechsle man dabei komplett das Verfahren, was sehr aufwĂ€ndig sei und eine lange Lernkurve beinhalte. ZusĂ€tzlich sind im OP neben der neuen Technik auch Techniker anwesend. „Das hat auch andere Effekte. Je mehr Personal im OP ist, desto höher sind z.B. Infektionsraten“, fĂŒhrt der Mediziner aus, „der Aufwand mit Technikern etc. erhöht allgemein die Gefahr von Komplikationen. Das sollten wir eigentlich vermeiden. Im OP sollten nur die sein, die da unbedingt sein mĂŒssen.“

Noch nicht ganz ausgereift

Insgesamt ist der Eingriff auch schonender fĂŒr den Patienten. Beim herkömmlichen Verfahren kommen Stangen zum Einsatz, um die Winkel zu bestimmen, nach denen das Implantat ausgerichtet werden soll. Die Methode ist aufwĂ€ndiger und bringt auch ein gewisses Verletzungspotenzial mit sich – jedoch ist beides nicht der ausschlaggebende Grund fĂŒr die Nutzung der Brille. „Das ist nice-to-have, aber lohnt allein die Anwendung dieser Technik nicht“, so Krause. Insgesamt steckt sie noch in den Kinderschuhen und muss ihr volles Potenzial erst entfalten.

Alle Möglichkeiten der lang bekannten Navigation hat man noch nicht, sie sollen aber kommen. Dazu gehört beispielsweise die Rotationsausrichtung. „Wir können die Achsen und die Neigung der GelenkflĂ€chen bestimmen, aber noch nicht die Rotation und die Bandspannung. Das spielt in der Knie-Endoprothetik eine große Rolle“, erlĂ€utert er. Wenn die Informationen da sind, wĂŒrde dies die Arbeit wesentlich verbessern und komplettieren. Zu viele Informationen sollten es jedoch auch nicht sein: „Ich erhoffe mir von dem System, dass es weiter smart bleibt und dass man nicht alle denkbaren Informationen hat, aber eben die auf die man Wert legt“.

Krause rechnet noch in diesem Jahr damit, die Technik fĂŒr das Knie mit Informationen zur Bandspannung und Rotation zu vervollstĂ€ndigen – beim Hersteller ist das bereits in der Pipeline. Was noch fehlt sind die Zulassungsverfahren. Im nĂ€chsten Schritt mĂŒssten die Mediziner sehen, welche konkreten Vorteile das Verfahren fĂŒr den Patienten bringt. Perspektivisch gibt es in der OrthopĂ€die viele Anwendungsgebiete, in denen die Arbeit mittels AR-Technologie erleichtert oder verbessert werden kann. So ist beispielsweise die Schulter ein großes Thema oder auch die HĂŒft-Endoprothetik.

An die Nutzung der Brille muss man sich zunĂ€chst etwas gewöhnen. Die Lernkurve sei insgesamt aber flach, da die eigentliche Arbeit die gleiche ist. Der Umgang muss dennoch in TrockenĂŒbungen geĂŒbt werden, da der Anwender wissen muss, wie man die Informationen verarbeitet. Durch die höhere PrĂ€zision ist auch mehr Planung notwendig. 

LizenzgebĂŒhren fallen an

Was bei den neuen Trackern, wie auch schon bei frĂŒheren Navigationshilfen, ein Problem bleibt, ist die Lichtempfindlichkeit. Gibt es im OP-Saal Streulicht, kann die Brille Schwierigkeiten haben die Tracker zu erkennen. Ebenso wenig darf das Licht blenden oder reflektieren. Durch die hohe Bewegungsempfindlichkeit ist es manchmal schwierig, das Drehzentrum des HĂŒftgelenkes zu referenzieren. Zwischen dem Patienten und dem am Tisch befindlichen Tracker darf zudem keine Relativ-Bewegungen auftreten. Dies komme beispielsweise vor, wenn sich das Bein aufgrund einer HĂŒftgelenksverschleißerkrankung nicht gut bewegen lĂ€sst, erklĂ€rt Krause. An dieser Stelle sei das System noch anfĂ€llig.

Ein nicht unwesentlicher Faktor bei solchen Innovationen sind auch die Kosten. Einen direkten Vertrag mit dem Anbieter gibt es nicht, die Bereitstellung lĂ€uft ĂŒber die Prothesenhersteller. FĂŒr die einzelnen Eingriffe sind dann LizenzgebĂŒhren fĂ€llig. FĂŒr jede „Anwendung“ muss ein Token gekauft werden, der aktuell 300 Euro kostet. Im DRG-System ist das nicht abgebildet: „Zurzeit bist das ein Add-on. Die DRG sind ja festgelegt; wie viel Aufwand ich als Operateur betreibebleibt bei mir und entsprechend muss ich ĂŒberlegen, wie viel es mir fĂŒr meine Patienten wert ist.“ Dass die Technik zeitnah durch das System refinanziert wird, sieht Krause nicht: „Solange man da nicht handfest nachweisen kann, dass es einen dauerhaften Vorteil fĂŒr den Patienten bringt, werden sie da kein Geld sehen.“

Quelle: Luisa-Maria Hollmig 2022. Thieme