Das Urteil des Bundessozialgerichts zur Sozialversicherungspflicht für den ärztlichen Notdienst beschäftigt nun die Bundespolitik. Patientenschützer und Kassenärztliche Bundesvereinigung fordern ein umgehendes Eingreifen der Politik.
Kassenärzte und Patientenschützer haben nach dem jüngsten Urteil des Bundesozialgerichts die Politik zum dringenden Eingreifen aufgefordert. Die Kasseler Richter hatten jüngst im Fall eines Zahnarztes aus Baden-Württemberg entschieden, dass dieser im notärztlichen Bereitschaftsdienst der Sozialversicherungspflicht unterliege. In einer scharfen Reaktion hatte daraufhin die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) mit einer „Notbremse“ und mit sofortiger Wirkung den Einsatz dieser sogenannten Poolärzte gestoppt.
Die Richter hatten der Klage eines Zahnarztes stattgegeben, der als sogenannter Poolarzt immer wieder Notdienste in einem von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung gestellten Notdienstzentrum übernommen hatte. Die Rentenversicherung war deshalb davon ausgegangen, dass er selbstständig sei. Doch der 12. Senat des Bundesozialgerichts sah dies anders.
Der konkrete Fall
Der klagende Zahnarzt war als so genannter „Pool-Arzt“ im Notdienst tätig. Der Arzt gehe aber nicht deshalb automatisch einer selbstständigen Tätigkeit nach, weil er „insoweit an der vertragszahnärztlichen Versorgung“ teilnehme, so das Gericht. Die ursprüngliche Annahme, dass der Arzt im Bereitschaftsdienst einer selbstständigen Tätigkeit nachgehe und damit nicht sozialversicherungspflichtig sei, wiesen die Richter des 12. Senats zurück (Aktenzeichen B 12R 9/21 R). Maßgebend seien vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Der klagende Zahnarzt hatte 2017 seine Praxis verkauft und war nicht mehr zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassen. In den Folgejahren übernahm er überwiegend am Wochenende immer wieder Notdienste in einem Notdienstzentrum der Kassenzahnärztlichen Vereinigung. Diese organisiert das Zentrum und stellt auch Personal und Sachmittel zur Verfügung. Der Zahnarzt rechnete seine Leistungen nicht individuell patientenbezogen ab, sondern erhielt ein festes Stundenhonorar.
Die Richter kamen in einer Gesamtabwägung zum Schluss, dass der Kläger „wegen seiner Eingliederung in die von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung organisierten Abläufe“ nicht selbständig tätig war. Er habe keinen entscheidenden, erst recht keinen unternehmerischen Einfluss ausüben können. Er habe eine von dritter Seite organisierte Struktur vorgefunden, in der er sich fremdbestimmt einfügte. Auch wurde der Kläger unabhängig von konkreten Behandlungen stundenweise bezahlt und verfügte nicht über eine Abrechnungsbefugnis, die für das Vertragszahnarztrecht eigentlich typisch sei. Infolgedessen habe der Zahnarzt bei der vorliegenden Notdiensttätigkeit aufgrund Beschäftigung der Versicherungspflicht unterlegen.
Gegenüber kma appellierte eine Sprecherin der KVBW „an die Verantwortung der Politik, uns Rahmenbedingungen an die Hand zu geben, damit es eine bürokratiearme und wirtschaftliche Lösung gibt. Ansonsten könnten die Auswirkungen noch gravierender werden, als die, die nun im Rahmen unserer ‚Notbremse‛ zu spüren sind”. Ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kündigte gegenüber der „Augsburger Allgemeinen” zudem an, dass man auf das Bundessozialministerium zugehen werde mit der dringenden Bitte, „eine gesetzliche Regelung zu erarbeiten, die eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht zum Ziel hat“.
Aktion „Notbremse” durch Kassenärzte
Die KVBW hat nach eigenen Angaben die Tätigkeit mit 3000 Poolärztinnen und Poolärzten in Baden-Württemberg nach dem Urteil beendet. Konkret bedeutet dies, dass diese Ärzte vorerst nicht mehr für den ärztlichen Bereitschaftsdienst eingeteilt werden. Zudem gibt es Einschränkungen bei den Öffnungszeiten der Notfallpraxen. Von 115 bestehenden Notfallpraxen im Ländle seien inzwischen acht geschlossen, bei weiteren sechs gebe es Teilschließungen, diese hätten unter der Woche gar nicht mehr oder nur noch an einzelnen Tagen geöffnet. Fast alle Notfallpraxen hätten zudem ihre Öffnungsseiten reduziert, so die KVBW gegenüber kma.
Die Anstellung würde einen enormen organisatorischen und verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten, denn wir nicht stemmen können.
Niedergelassene Vertragsärzte haben laut Sozialgesetzbuch eine Dienstpflicht im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Angestellte Ärzte im ambulanten Bereich, also zum Beispiel in einer Hausarztpraxis, unterliegen jedoch nicht der Dienstpflicht im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Bisher wurden laut KVBW 40 Prozent der Bereitschaftsdienste von deren Poolärzten abgedeckt. Diese Dienste müssen nach dem Urteil jetzt von allen KV-Mitgliedern übernommen werden. Trotz „Notbremse” seien nun mehr Haus- oder Fachärzte in Einsatz. Diese Zeit würden nun in der täglichen Praxisversorgung fehlen, heißt es.
Modell ärztlicher Notdienst steht auf tönernen Füßen
Doch in dem Streit geht es um auch die Verteidigung handfester Interessen der Kassenärzte. Die KVBW räumte auf Nachfrage ein, dass sie die Kosten einer abhängigen Beschäftigung von Poolärzten tragen müsste. Das eigentliche Problem seien aber nicht die Kosten, sondern der verwaltungstechnische Aufwand für die Kassenärztliche Vereinigung. Für die KVBW „würde die Anstellung einen enormen organisatorischen und verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten, denn wir nicht stemmen können”, teilte die Sprecherin mit. Zudem müssten bei einer Anstellung bestimmte Vorgaben eingehalten werden – wie Arbeitszeit, Anspruch auf Urlaub usw. „Um dieselbe Dienstzeit wie bisher abzudecken, bräuchten wir viel mehr Ärztinnen und Ärzte. Die gibt es aber nicht, denn wir haben einen großen Ärztemangel.”
Das Modell des ärztlichen Notdienstes, der Praxis- und Hausbesuche rund um die Uhr ermöglicht, steht mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts auf tönernen Füßen.
Die drastische Reaktion der niedergelassenen Ärzte hat Folgen – in vielerlei Richtung. Zum einen befürchten Krankenhäuser wie berichtet, dass verunsicherte Patienten nun direkt die Notaufnahmen ansteuern und dort die ohnehin schwierige Situation weiter verschärfen. Auch Patientenschützer befürchten Schlimmes, sie warnen vor Einschnitten bei der bereitschaftsärztlichen Versorgung zu Lasten der Patienten. „Das Modell des ärztlichen Notdienstes, der Praxis- und Hausbesuche rund um die Uhr ermöglicht, steht mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts auf tönernen Füßen”, sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Patientenschützer fordern Eingreifen Lauterbachs
Brysch forderte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf, als Dienstaufsicht der Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag unverzüglich herstellen zu lassen. „Gerade immobile oft pflegebedürftige Menschen sind auf eine häusliche Erreichbarkeit im Notfall angewiesen“, betonte Brysch.
Quelle: Guntram Doelfs/dpa