Digitale Transformation – Horrorjahr für IT-Abteilungen in Krankenhäusern

Alle IT-Abteilungen in deutschen Krankenhäusern müssen ihre KHZG-Förderprojekte mehr oder weniger zeitgleich umsetzen. Zusätzlich zu den laufenden Projekten und unter Einhaltung gesetzlicher Fristen. Wie gehen die Kliniken damit um?

Deutschland hat enormen Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern belegt das deutsche Gesundheitswesen seit Jahren einen der hinteren Ränge. Damit sich das ändert, hat die Politik mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) ein milliardenschweres Förderprogramm auf den Weg gebracht. Der aktuelle Fachkräftemangel erschwert die Umsetzung der KHZG-Projekte innerhalb des vorgegebenen Zeitplans, der von vielen als ambitioniert empfunden wird. Die KHZG-Projekte kommen on top zu den Projekten der Telematikinfrastruktur, beispielsweise E-Rezept und elektronische Patientenakte, regulären Projekten und dem normalen IT-Betrieb hinzu. Je nach Voraussetzung gehen die Einrichtungen unterschiedlich mit den Herausforderungen um.

„Die Situation in den Häusern ist sehr heterogen“, bestätigt Jürgen Flemming, Mitglied im Vorstand des Bundesverbands der IT-LeiterInnen und Regional Manager IT Allgäu-Oberschwaben der Sana IT Services GmbH. Die ersten Krankenhäuser haben bereits mit der Umsetzung ihrer Projekte losgelegt, obwohl die KHZG-Förderbescheide noch ausstehen und die finanzielle Situation deshalb noch etwas unsicher ist, weiß er zu berichten. „Das erzeugt dann natürlich eine positive Grundstimmung“, ergänzt er. „Aber es handelt sich um vergleichsweise wenige Häuser.“ Sehr viele Krankenhäuser befinden sich noch in der Endphase der Vergabeverfahren – in der Ausschreibung oder der Auftragserteilung. Zahlreiche Kick-off-Meetings finden statt und die Projekte starten. „Hier ist der Stress zurzeit am größten.“

Zu alldem kommt noch der bürokratische Aufwand hinzu. Wenn etwa in den Vergabeverfahren andere Beträge stehen als in den Förderanträgen, verlangen die zuständigen Landesbehörden zum Teil ausführliche Begründungen, warum das Krankenhaus für manche Dinge mehr Geld ausgeben und an anderer Stelle streichen möchte. Rechenschaft müssen die Häuser auch ablegen, wenn sie innerhalb eines Fördertatbestands Maßnahmen umschiffen, um am Ende ihr Projekt doch noch finanziert zu bekommen. „Hier zeigt sich auf Seiten der Behörden ein krasses Unverständnis darüber, was eigentlich ein Tagesbetrieb im Krankenhaus bedeutet“, so Flemming.

Zu den größten Herausforderungen zählt jedoch der aktuelle Fachkräftemangel. Der Markt für IT-Mitarbeiter ist praktisch leergefegt. Kliniken müssen zum Teil Fantasiegehälter bezahlen, um IT-Experten zu bekommen. Angesichts der verbesserten Verdienstmöglichkeiten ist auch die Wechselwilligkeit gestiegen. Vereinzelt sollen Kliniken bereits IT-Mitarbeiter aus anderen Häusern abgeworben haben. Engpässe gibt es aber auch bei den externen Beratern und IT-Dienstleistern. Laut Bundesamt für Soziale Sicherung wurden über 6000 KHZG-Anträge gestellt. Diese Förderprojekte müssen, sofern sie bewilligt werden, nahezu gleichzeitig bearbeitet werden. Da es auf dem deutschen Markt nicht genügend Berater gibt, die Erfahrung im Krankenhauswesen haben, werden in der Not auch solche ohne Branchenkenntnisse genommen. „Ich fürchte, dass diese Berater die Komplexität unterschätzen und die Bedeutung der IT-Systeme für den Betrieb im Krankenhaus nicht richtig einschätzen können“, so Flemming. Vielen dieser Berater sei zum Beispiel die Bedeutung des 24/7-Betriebs nicht klar. Das Aufspielen von Software-Updates am Wochenende, wie es zum Beispiel in Arztpraxen stattfindet, kann im Krankenhaus zu massiven Problemen führen.

Ein außergewöhnliches Jahr

„Das Jahr 2022 ist für unsere IT-Abteilung ein außergewöhnliches Jahr“, stellen Matthias Boden und Georg Thoben, die Leiter der IT- und Medizintechnik-Abteilung des Klinikums Leer, fest. „Das Investitionsprogramm zur Digitalisierung der Krankenhäuser erfordert einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand für unsere Mitarbeiter und beschäftigt uns täglich.“ Als größte Herausforderung bei der Umsetzung der KHZG-Projekte betrachten beide die Einhaltung der vorgegebenen Fristen. Lieferengpässe bei der benötigten Hardware und die hohe Auftragslage der Dienstleister führen zu Verzögerungen. Das Klinikum Leer konnte dennoch bereits mit einigen KHZG-Projekten beginnen. „Unsere IT-Abteilung ist gut vorbereitet und alle Stellen sind besetzt.“

Das Investitionsprogramm zur Digitalisierung der Krankenhäuser erfordert einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand für unsere Mitarbeiter und beschäftigt uns täglich.

Unikliniken sind gut vorbereitet

Vor allem die großen Krankenhäuser gehen nicht unvorbereitet in die Projekte. Die Universitätskliniken sind dabei in einer besonderen Situation. „Für uns hat sich eigentlich nichts geändert“, erklärt Katja Kümmel, Leiterin des Geschäftsbereichs IT/CIO am Universitätsklinikum Münster. „Bei den KHZG-Projekten handelt es sich um Vorhaben, die bei uns ohnehin auf der Agenda standen.“ Die Ausschreibungen stellen für das Klinikum keine zusätzliche Belastung dar. „Die hätten wir ohnehin machen müssen.“ Herausfordernder sei das Umfeld, stellt Kümmel fest, weil alle Krankenhäuser gleichzeitig ihre Projekte in Angriff nehmen. Entsprechend überlastet seien die Dienstleister. Für zusätzlichen Aufwand sorgen das Schreiben, Verwalten und Nachverfolgen der Anträge sowie der Digitalradar zur Messung des Reifegrads. „Der Digitalradar war sehr aufwendig“, stellt sie fest. Außerdem muss das Klinikum Berichte zu den KHZG-Projekten erstellen. Natürlich begrüßt Kümmel, dass die KHZG-Fördermittel fließen. Sie gibt jedoch zu bedenken: „Ohne das KHZG hätten wir uns den bürokratischen Aufwand erspart, womöglich mit einem besseren wirtschaftlichen Ergebnis, weil wir uns jetzt in einer großen Konkurrenzsituation befinden.“

Das Universitätsklinikum Freiburg befindet sich in einer ähnlichen Situation. Einige der jetzt beantragten KHZG-Projekte standen bereits auf dem Masterplan Digitalisierung, der nach dem Wechsel an der Spitze des Klinikums 2019 entwickelt wurde. Sie wären ebenfalls auch ohne das KHZG umgesetzt worden. „Wir haben bis jetzt noch keinen Förderbescheid erhalten“, sagt Dr. Michael Kraus, Leiter des Zentrums für Digitalisierung und Informationstechnologie am Universitätsklinikum, „obwohl wir die Anträge bereits im September 2021 beim BAS eingereicht haben.“ Kraus weiß die Landesregierung auf seiner Seite und ist daher zuversichtlich, die beantragten Fördermittel in voller Höhe zu erhalten. „Die Unikliniken in Baden-Württemberg werden durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK) ein Stück weit komplementär gefördert“, erklärt er.

Das Personalthema spielt natürlich auch in Freiburg eine große Rolle. Einerseits verfügt das Universitätsklinikum über einen relativen großen Stamm an IT-Mitarbeitern. Andererseits verabschieden sich in den nächsten Jahren die Mitarbeiter der Babyboomer-Generation in den Ruhestand. „Das stellt für uns ein Stück weit eine Herausforderung und Chance dar“, erläutert Kraus. Er möchte die KHZG-Projekte nutzen, um neues Personal zu gewinnen und so die in den nächsten Jahren freiwerdenden Stellen nachzubesetzen. Noch aber sind nicht alle Stellen, die über das KHZG gefördert werden, besetzt. Da viele IT-Mitarbeiter mit dem Tagesgeschäft ausgelastet sind, hat das Klinikum einen Bereich „Digitale Transformation“ gegründet. Dort arbeiten Mitarbeiter, die sich nur um die Projekte kümmern. Sie werden von ihren Kollegen aus der klassischen IT-Abteilung unterstützt.

Angesichts der Fristen, nach denen die Projekte bis Ende 2024 abgeschlossen sein sollen, bleibt auch den Softwareanbietern nichts anderes übrig, als im Wesentlichen ihre Bestandslösungen anzubieten.

Kraus weist auf ein Manko des KHZG hin. Das Uniklinikum hat zum Teil eine sehr alte Softwarearchitektur im Einsatz, die er gerne im Rahmen der Projekte durch eine moderne ersetzen würde. „Angesichts der Fristen, nach denen die Projekte bis Ende 2024 abgeschlossen sein sollen, bleibt auch den Softwareanbietern nichts anderes übrig, als im Wesentlichen ihre Bestandslösungen anzubieten.“

Das Projektmanagement übernehmen Kollegen aus anderen Bereichen

Ähnlich wie den Universitätskliniken ergeht es dem Agaplesion-Konzern, der bundesweit Kliniken betreibt. „Wir waren unter den ersten Krankenhäusern, die eine Digitalisierungsstrategie aufgelegt haben“, sagt Sebastian Polag, der als CFO im Vorstand von Agaplesion für die Bereiche Finanzen und IT verantwortlich ist. Die vielen Projekte, die das Unternehmen jetzt als KHZG-Förderprojekte angeht, standen daher längst auf der Agenda und wären auch ohne Förderung realisiert worden. „Natürlich nicht in der Ausprägung und der Geschwindigkeit wie unter dem KHZG“, schränkt er ein. Auch Agaplesion sieht sich mit dem Ressourcen- und Personalmangel konfrontiert. „Als Konzern ist es aber leichter, an Rahmenverträge zu kommen und Vereinbarungen mit den Herstellern abzuschließen“, räumt er ein. Über die Hälfte der beantragten Fördermittel hat der Konzern schon bewilligt bekommen. Weil Agaplesion bundesweit vertreten ist, muss das Unternehmen bei Ausschreibungen die unterschiedlichen Regularien der einzelnen Bundesländer berücksichtigen. Die Ausschreibungen erfolgen daher nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. „Wir sind bei unseren geplanten Projekten exakt auf Kurs“, stellt Polag fest.

Auch bei Agaplesion fehlen IT-Fachkräfte. Dass sich dies bei den Projekten nicht so sehr bemerkbar macht hängt damit zusammen, dass der Konzern infolge seiner Digitalisierungsstrategie schon früh auf Outsourcing gesetzt hat. Die meisten Krankenhäuser des Konzerns beziehen ihr KIS als Software-as-a-Service sozusagen aus der Steckdose. Dadurch entfällt die Betreuung und Wartung des KIS durch die IT-Mitarbeiter. „Wir setzen unsere Mitarbeiter für die Kernbereiche ein und nicht mehr für unnötige Verwaltungsarbeiten.“ Die größte Entlastung der IT-Abteilung bei den KHZG-Projekten erzielt Agaplesion jedoch durch die Einbindung von betriebswirtschaftlich orientierten Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachbereichen. Diese Mitarbeiter sollen die KHZG-Projekte koordinieren und managen und dadurch die IT-fremde Arbeit von den IT-Mitarbeitern weitgehend fernhalten. Pro Fördertatbestand gibt es eine eigene Projektgruppe.

Sonderfall Lausitz

Eine Digitalstrategie hat auch das Klinikum Cottbus. „Die großen KHZG-Projekte standen deshalb ohnehin auf unserer Liste“, sagt Sebastian Scholl, Direktor für IT, Digitalisierung und Finanzen, „aber es hilft uns natürlich sehr, wenn wir dafür Fördermittel erhalten.“ Das Klinikum hat sich vorgenommen, in den nächsten Jahren erheblich in IT zu investieren. Um die Digitalisierungsprojekte von den IT-Routineaufgaben zu trennen, hat das Klinikum eine neue Abteilung „Digitalisierung und Innovation“ gegründet. Für beide Abteilungen wurden Führungskräfte gesucht, und es gab umfangreiche Stellenbesetzungen. Vom Fachkräftemangel spürt man in Cottbus offenbar wenig. Die neuen Mitarbeiter kommen unter anderem aus anderen Bereichen des Klinikums, waren bislang Anwender und möchten sich nun weiterentwickeln. Oder sie sind IT-Fachkräfte aus der Region, die bislang nach Berlin oder Dresden gependelt sind, die aus der Lausitz weggezogen waren und jetzt wieder zurückkehren.

Auch das Klinikum Cottbus hatte Mitte Oktober noch keinen Förderbescheid erhalten. Es ist deshalb in Vorleistung getreten und hat seine beiden Großprojekte „Digitale Fieberkurve“ und „Medikation“ jetzt vergeben. „Wenn wir auf den Förderbescheid gewartet hätten, wäre die Deadline 2024 nicht zu halten gewesen“, erläutert Scholl. Die Abteilung „Digitalisierung und Innovation“ ist federführend bei den beiden Großprojekten. Scholl sieht das Klinikum gut aufgestellt für die KHZG-Projekte. Bereits im vergangenen Jahr hat sich das Management aktiv einige Dienstleistungskontingente in bestimmten IT-Bereichen für drei bis vier Jahre gesichert.

2023 soll heftiger werden

War 2022 mit dem Warten auf die KHZG-Förderbescheide, den Ausschreibungen, Vergaben und Projektstarts sowie den TI-Projekten und dem Brot-und-Butter-Geschäft ein Horrorjahr für die IT-Mitarbeiter? Je nach Betrachtungsweise wird es von den IT-Verantwortlichen als außergewöhnlich oder normal wahrgenommen – offenbar haben sich alle längst an ein großes Arbeitspensum gewöhnt. In einem sind sich aber alle einig: Die kommenden Jahre werden erst richtig heftig.

Quelle: Dr. Michael Lang 2022. Thieme