Großbritannien – Korridor der Verzweiflung

Ein aktueller Bericht der Gewerkschaft Royal College of Nursing (RCN) enthĂŒllt schockierende ZustĂ€nde in britischen Kliniken. Patienten werden auf Fluren und anderen ungeeigneten Orten behandelt. Drohen solche ZustĂ€nde bald hierzulande?

Im Dezember 2024 wurden ĂŒber 5000 Pflegefachpersonen zu der schwierigen Versorgungssituation in den ĂŒberlasteten Kliniken auf der Nachbarinsel befragt. Der RCN-Bericht mit dem Titel „On the frontline of the UK’s corridor crises“ basiert auf den Erfahrungen von ĂŒber 5000 PflegekrĂ€ften und enthĂ€lt erschĂŒtternde Aussagen, die zeigen, dass diese Praxis nicht nur die Patientinnen und Patienten gefĂ€hrdet, sondern auch zu einer hohen moralischen Belastung der Mitarbeitenden fĂŒhrt. 

Der Bericht zeigt, was passiert, wenn die Politik zu spÀt oder gar nicht auf die Pflegekrise reagiert, obwohl sie seit vielen Jahren immer wieder davor gewarnt wird. 

Der Begriff der „Korridorpflege“ geistert seit EnthĂŒllung hierzulande durch vieler Munde und bewegt die GemĂŒter. Er steht synonym fĂŒr den Zusammenbruch des Pflegestandards mit gravierenden Folgen. Auch der Deutsche Pflegerat (DPR) findet die im RCN-Bericht genannten ZustĂ€nde „absolut alarmierend“. DPR-PrĂ€sidentin Christine Vogler erklĂ€rt: „Der Bericht zeigt, was passiert, wenn die Politik zu spĂ€t oder gar nicht auf die Pflegekrise reagiert, obwohl sie seit vielen Jahren immer wieder davor gewarnt wird.“

Die WĂŒrde des Menschen wird mit FĂŒĂŸen getreten

Aus dem Bericht geht hervor, dass die Versorgung von Patienten an dafĂŒr ungeeigneten Orten nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Sieben von zehn Befragten gaben in der Umfrage an, dass sie tĂ€glich in ĂŒberfĂŒllten und ungeeigneten RĂ€umen wie Fluren, umgebauten SchrĂ€nken oder sogar auf ParkplĂ€tzen Pflege leisten. Patienten werden also in ĂŒberfĂŒllter und unhygienischer Umgebung – ohne PrivatsphĂ€re – behandelt. 

Wir können mit Bestimmtheit sagen, dass Patienten in dieser Situation sterben. 

Eine demoralisierte Pflegekraft berichtet, dass sie sich um bis zu 40 Patienten in einem einzigen Korridor kĂŒmmere und keinen Zugang zu Sauerstoff, Herzmonitoren, Absaugung und anderen lebensrettenden GerĂ€ten habe. Es verwundert daher kaum, dass knapp 91 Prozent der Befragten die Lage so einschĂ€tzen, dass die Patientensicherheit beeintrĂ€chtigt werde. RCN-GeneralsekretĂ€rin und GeschĂ€ftsfĂŒhrerin Nicola Ranger fand dazu klare Worte: „SchutzbedĂŒrftige Menschen werden ihrer WĂŒrde beraubt und dem Pflegepersonal wird der Zugang zu lebensrettender AusrĂŒstung verwehrt. Wir können mit Bestimmtheit sagen, dass Patienten in dieser Situation sterben.“ DPR-PrĂ€sidentin Christine Vogler findet: „Die Pflege und Behandlung in solchen VerhĂ€ltnissen sind weit entfernt von jeglichen Standards guter Pflege. Sie sind fĂŒr alle Seiten körperlich als auch psychisch extrem belastend, menschenunwĂŒrdig und inakzeptabel. Sie widersprechen all unseren ethischen und moralischen AnsprĂŒchen an den Pflegeberuf.“

Mit sehenden Augen in die Krise

Eine befragte Krankenschwester beschreibt die Situation und die Ohnmacht, die die PflegekrĂ€fte verspĂŒren, wie folgt: „Die Korridorpflege ist das offensichtliche und vermeidbare Versagen des politischen Willens zur Reform des National Health Service und der SozialfĂŒrsorge. Das Pflegepersonal, der grĂ¶ĂŸte Teil der Belegschaft, trĂ€gt die Hauptlast dieses Versagens. Das schockierendste ist fĂŒr mich jedoch, dass diese Situation nun als Norm akzeptiert wird.“ 

Das schockierendste ist fĂŒr mich jedoch, dass diese Situation nun als Norm akzeptiert wird.

Sie fordert: „Die EnthĂŒllungen aus unseren Krankenstationen mĂŒssen jetzt zum Thema werden. Es ist an der Zeit, dass die Regierung endlich Maßnahmen fĂŒr das Gesundheitssystem ergreift, das so lange vernachlĂ€ssigt wurde. Die Minister können sich nicht mehr vor der Verantwortung drĂŒcken und mĂŒssen erkennen, dass es Investitionen erfordert, um die Patientenversorgung wieder sicherzustellen.“

Die Veröffentlichung des Berichts folgte auf einen Brief, der von einer vom RCN angefĂŒhrten Koalition aus 15 Organisationen an die Regierung gefolgt ist. Hier wurden StaatssekretĂ€r Wes Streeting und die Regierung aufgefordert, eine verpflichtende Berichterstattung ĂŒber die HĂ€ufigkeit und Auswirkungen der Korridorpflege einzufĂŒhren und langfristig eine gesetzliche Verpflichtung zur Beendigung dieser Praxis zu erwirken. Bereits im Juni 2024 hatte das RCN wegen der Überbelegung von KrankenhĂ€usern und der Pflege an ungeeigneten Orten den nationalen Notstand ausgerufen und die Regierung sowie die Krankenhausleitungen aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu verbessern. Trotz Versprechen seitens der Regierung scheint wenig passiert zu sein. Im Januar mussten rund 54000 Patienten in den englischen Notaufnahmen lĂ€nger als zwölf Stunden auf ein freies Krankenhausbett warten. Das waren nochmal 23 Prozent mehr als im Dezember.

Politik ist auch in Deutschland gefordert

Die Veröffentlichung der Befragungsergebnisse soll fĂŒr die Verantwortlichen nun ein Weckruf sein. Auch Vogler findet, dass die „Korridorpflege“ alle Prinzipien des ICN-Ethikkodex mit FĂŒĂŸen tritt. Sie warnt: „Auch in Deutschland arbeitet die Pflegeprofession tĂ€glich mit zu wenig Kolleginnen und Kollegen am Limit, was die Versorgungssicherheit immer weiter gefĂ€hrdet. Auch hier sind die Herausforderungen enorm und allen bekannt.“ Der DPR legt den Finger in die Wunde: „Das ist eine humanitĂ€re wie auch eine demokratische Gefahr: Wenn der Staat seine Verantwortung fĂŒr eine gesicherte Pflege nicht wahrnimmt, schwindet das Vertrauen in die politischen Institutionen.“ 

Auch in Deutschland arbeitet die Pflegeprofession tÀglich mit zu wenig Kolleginnen und Kollegen am Limit, was die Versorgungssicherheit immer weiter gefÀhrdet. 

Mit Blick auf die neue Bundesregierung fordert Vogler mutige Entscheidungen und eine „verlĂ€ssliche Finanzierung sowie wirksame Maßnahmen gegen den FachkrĂ€ftemangel – sonst verschĂ€rft sich auch in Deutschland ein unkontrollierbarer Pflegenotstand mit weitreichenden Folgen fĂŒr unser Gemeinwesen.“ Sie ist sich sicher, dass wir hierzulande einen entschlossenen Gesundheitsminister bzw. eine entschlossene Gesundheitsministerin brauchen, um konsequent den Reformkurs zu verfolgen, um solche VerhĂ€ltnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Quelle: Alexandra Heeser (Freie Journalistin) 2025. Thieme

 

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