Kommentar – Die Pflege stellt sich selbst ins Abseits

Die Pflegekammer Baden-Württemberg kommt wahrscheinlich nicht. Warum das Quorum nicht erreicht wurde und welche Rolle den am Prozess beteiligten Instanzen und Akteuren dabei zukommt, weiß kma-Autorin Alexandra Heeser.

Alexandra Heeser ist seit über 15 Jahren im Bereich Pflege unterwegs, zuerst auf Verbandsseite, seit fünf Jahren als freie Journalistin. Sie verantwortet die Pressearbeit des Gründungsausschusses der Pflegekammer Baden-Württemberg und schreibt regelmäßig für kma und andere Fachmedien über Gesundheitspolitik sowie Pflegethemen.

Im Januar 2024 bekamen knapp 120 000 Pflegekräfte in Baden-Württemberg Post. Der Gründungsausschuss informierte die Pflegenden darüber, dass sie in der zu etablierenden Pflegekammer Baden-Württemberg registriert wurden. Gespickt war das dreiseitige Anschreiben mit vielen Informationen, u.a. welche Vorteile Pflegende davon haben. Ebenfalls dabei: ein Vordruck für einen Widerspruch sowie ein frankierter Rückumschlag. Den Kammergegnern wurde es also leicht gemacht, ihrer Registrierung zu widersprechen. Ein solches Opt-out-Verfahren ist nicht unüblich – es wird beispielsweise bei der elektronischen Patientenakte angewendet.

Falschinformationen, Mythen und Co.

Was dann folgte, waren sechs Wochen des Bangens. Die Kammergegner, allen voran Verdi, ließen keine Möglichkeit aus, die Pflegenden mit Falschinformationen zu versorgen. Bei einer Online-Infoveranstaltung beispielsweise schalteten die Gewerkschaftsvertreter die Chatfunktion aus, um störende Fragen oder Richtigstellungen zu verhindern. Auch im Anschluss an den Vortrag wurden nur einige wenige und ausgesuchte Fragen zugelassen und beantwortet. Mythen, die schon bei den anderen Kammergründungen aufgekommen waren, fanden auch in Baden-Württemberg fleißige Verbreitung. Und viele Pflegekräfte glaubten sie, ohne kritische Nachfragen. Am 23. Februar endete die Einspruchsfrist, Sozialminister Manfred Lucha wollte am 25. März das Ergebnis verkünden. 

Das legt für mich den Schluss nahe, dass Minister Lucha das Thema Pflegekammer bereits ad acta gelegt hat. 

Umso überraschender war es, bereits am 28. Februar aus dem Sozialministerium – in einer Sitzung des Sozialausschusses – zu vernehmen, dass das Quorum scheinbar nicht erreicht wurde. Es verwundert mich offenbar genauso sehr wie den Gründungsausschuss und die Pflegekräfte selbst, dass Lucha nur fünf Tage nach Fristende ein vorläufiges und noch ungeprüftes Ergebnis verkündet. Er hat dem Gründungsausschuss nicht einmal die Zeit gelassen, die Datenlage final auszuwerten und neutral überprüfen zu lassen. Das legt für mich den Schluss nahe, dass Minister Lucha das Thema Pflegekammer bereits ad acta gelegt hat.

Fehlendes politisches Interesse?

Die Kammergründung stand von Anfang an auf wackeligen Beinen. Erst hat Lucha sie 2020 ausgesetzt. Dann dauerte es trotz Koalitionsvertrag eineinhalb Jahre, bis das Sozialministerium einen Referentenentwurf vorgelegt hat – ohne die Fachexpertise der Pflege einzuholen.

Das im vergangenen Sommer vom Landtag verabschiedete Gesetz mit dem vom Sozialministerium festgelegten Registrierungsverfahren stand von Beginn an in der Kritik der Opposition und der Kammergegner. Jüngst forderten Verdi und die Opposition sogar ein Aussetzen des Registrierungsverfahrens, zumindest aber eine Fristverlängerung. Aber auch unter den Kammerbefürwortern war der Gesetzentwurf nicht unumstritten. Viele machten keinen Hehl daraus, dass sie sich ein anderes Gesetz und ein anderes Registrierungsverfahren gewünscht hätten.

Für Außenstehende scheint es, als ob Sozialminister Manfred Lucha nicht wirklich hinter der Kammer steht. Zum einen folgte er dem Willen der Opposition, indem er das Quorum auf 60 Prozent festlegte. Auch der Landespflegerat hat eine Mehrheitsentscheidung im vergangenen Jahr unterstützt – eine Mehrheit ist aber bereits bei 50 Prozent plus 1 erreicht. Lucha legte die Messlatte bewusst höher an. Zu hoch, meinen viele. Zum anderen hat der Gesetzgeber absichtlich ein eigenes Landespflegekammergesetz erlassen und nicht – wie sonst überall üblich – die Gründung der Pflegekammer in das Heilberufekammergesetz aufgenommen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. So ist es einfacher, am Ende den Gründungsausschuss abzuwickeln – ohne die anderen Heilberufe dabei involvieren zu müssen.

Die kurze Zeitschiene des Ministeriums war ebenfalls mehr als ambitioniert. Der Gründungsausschuss und vor ihm der Landespflegerat haben immer wieder betont, dass diese absolut unrealistisch sei und alle Beteiligten unnötig unter Druck setze. In Nordrhein-Westfalen hat der gesamte Prozess der Kammergründung und Registrierung über zwei Jahre gedauert – und dort war klar, dass es eine Kammer geben wird. In Baden-Württemberg sollte die Registrierung inklusive der Widerspruchsfrist sowie die Kammergründung innerhalb von 18 Monaten erfolgen.

Jammerkultur der Pflege 

Umso weniger nachvollziehbar ist, dass sich die Pflege die Chance entgehen lässt, endlich die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen.

Die Pflege beklagt oft und laut, dass ihre Interessen nicht ausreichend vertreten werden. Leider ist ein Großteil unpolitisch und nicht organisiert. Schon Jens Spahn hat 2022 auf dem Deutschen Pflegetag die Frage in den Raum gestellt, wieso eigentlich. Die Pflege sei die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen und könnte organisiert viel erreichen, wenn sie mit einer Stimme sprechen würde.

Umso weniger nachvollziehbar ist, dass sich die Pflege die Chance entgehen lässt, endlich die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. Will eine Institution an den Start gehen, die an den schlechten Arbeitsbedingungen und dem fehlenden politischen Gehör etwas ändern kann, sträuben sich die Pflegenden. Mehr noch: Sie lassen sich – wie hier in Baden-Württemberg teilweise geschehen – auch noch vor den Karren von Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften spannen, die selbst zugeben, um ihren Einfluss zu fürchten.

Knapp zehn Prozent der Pflegenden in Deutschland sind freiwillig bei Verdi organisiert. Verdi-Vertreter haben mehrfach eingeräumt, dass sie Austritte befürchten, sollte es eine verpflichtende Mitgliedschaft in einer Pflegekammer geben. Zum Hintergrund: Die Gewerkschaft war von Anfang an in den Kammergründungsprozess in Baden-Württemberg mit eingebunden. Das zeigt, dass die Institutionskonkurrenz immer präsent war und die – zum Teil fragwürdigen – Handlungen und Aktionen im Registrierungsprozess motiviert hat.

Andere Kammerberufe wie Ärzte, Apotheker, Therapeuten, Notare oder Anwälte haben ihre Lobby und damit auch ihren festen Platz auf dem politischen Parkett. Sie machen es seit Jahrzehnten vor und nehmen Einfluss auf Gesetze und politische Entscheidungen. Allem voran ist die Bundesärztekammer zu nennen, die die Interessen der Ärzte gerade im Gesetzgebungsprozess mit Karl Lauterbach vehement einbringt. So manche Forderung konnte sie hier in der Vergangenheit schon durchsetzen.

Vertane Chance für mehr Einflussnahme

Mit der Absage an eine Pflegekammer in Baden-Württemberg hat sich die Profession keinen Gefallen getan. Denn sie hat Strahlkraft auf andere Bundesländer und auch auf den Bund, wo Pflege- und Gesundheitspolitik vornehmlich gemacht wird. Wichtige Themen wie die Weiterentwicklung des Pflegeberufes, Akademisierung und Professionalisierung werden nun schwerer politisch durchzusetzen sein. Mit einer Pflegekammer in Baden-Württemberg hätte die Bundespflegekammer ein Drittel der beruflich Pflegenden in Deutschland repräsentiert und so ein ganz anderes politisches Gewicht gehabt.

Die Entscheidung der Profession in Baden-Württemberg ist nicht nachvollziehbar. Denn sie bedeutet im Umkehrschluss: Pflege wird als Profession im deutschen Gesundheitssystem weiterhin nicht vorkommen. Politische Entscheidungen, die die Pflege betreffen, werden auch in Zukunft von anderen beeinflusst, nicht von der Berufsgruppe selbst. Es hat fast den Anschein, die Pflege will sich nicht selbst verwalten, sondern will weiter verwaltet und fremdbestimmt werden.

Quelle: Alexandra Heeser (freie Journalistin) 2024. Thieme