Ein zentraler Pfeiler der Krankenhausreform ist die Vorhaltefinanzierung. Im Gespräch mit kma schildert Prof. Heinz Lohmann, warum das Konzept ein fataler Rückfall zum alten Kostendeckungsprinzip ist und warum weiterentwickelte DRGs sinnvoller wären.
Prof. Heinz Lohmann ist als Berater in der Gesundheitswirtschaft tätig. Er war von 1997 bis zum Verkauf an Asklepios Vorstandschef des Landesbetriebes Krankenhäuser in Hamburg. Zuvor war er jahrelang in der Hamburger Gesundheitsbehörde für die Krankenhausplanung zuständig.
Herr Prof. Lohmann, Sie haben unlängst Kritik am Konzept der Vorhaltefinanzierung in der geplanten Klinikreform geäußert. Was ist daran falsch?
Prof. Heinz Lohmann: Eine der Grundideen der Vorhaltefinanzierung ist, Institutionen zu finanzieren, die nicht ausreichend Leistungen erbringen, um über die Leistungsfinanzierung ausreichende Einnahmen zu erzielen. Diejenigen, die weniger Leistungen erbringen, sollen trotzdem existent bleiben und weiter alimentiert werden. Damit ist die Vorhaltefinanzierung als leistungsunabhängige Finanzierung nichts anderes als eine Alimentierung von Institutionen.
Nun hat das das bestehende DRG-System aber ebenfalls zu elementaren Fehlentwicklungen geführt. Worin liegt denn das konkrete Problem bei einer Vorhaltefinanzierung?
Vorhalte heißt, sie bekommen Geld für etwas, was nicht durch Leistung hinterlegt wird. Es ist also eine Finanzierung, die vergleichbar mit dem Kostendeckungsprinzip ist, das in den 60er, 70er, 80er Jahren des letzten Jahrhunderts praktiziert wurde und schon damals als untauglich erkannt wurde. Weil es nämlich dazu führt, dass Krankenhäuser keine Möglichkeiten haben, die Einnahmen zu erhöhen, also die Einnahmeseite zu beeinflussen. Wirtschaftliche Effekte gibt es nur über das Sparen auf der Ausgabenseite. Das wäre bei der Vorhaltefinanzierung genauso.
Befürchten Sie, dass Herr Lauterbach mit dieser Form der Finanzierung zumindest teilweise genau das Gegenteil von dem erreicht, was er formal postuliert?
Genau das ist meine Befürchtung. Damals war jenes Krankenhaus am besten dran – um es sehr überspitzt auszudrücken -, wenn es „Gesunde“ behandelt hat. „Gesunde“ hatten die wenigsten Komplikationen, verursachten die wenigsten Kosten – und man hat sie auch möglichst lange behandelt, weil in der zweiten und dritten Woche weniger Kosten anfielen als in der ersten Woche. Deswegen hat man möglichst wenig möglichst lange behandelt. Daraus zog man damals den richtigen Schluss, dass das Geld der Leistung folgen muss. Dort, wo die Menschen die Leistungen in Anspruch nehmen wollen, dort muss das Geld aus der Finanzierung auch landen.
Minister Lauterbach argumentiert, dass das DRG-System ja gar nicht komplett abgeschafft werde. Nach dem Prinzip der medizinischen Ergebnisqualität soll jene Klinik das meiste Geld bekommen, welches die beste medizinische Versorgung liefert. Die Vorhaltefinanzierung soll vor allem die flächendeckende medizinische Versorgung sichern. Ist das nicht schlüssig zu Ende gedacht?
Zunächst verbleibt nach den aktuellen Plänen nur noch eine kleine Leistungskomponente, momentan sollen 40 Prozent leistungsbezogen finanziert werden. Wenn man eine kleine zusätzliche leistungsbezogene Finanzierung einführt, aber im Kern bei einer Alimentierung der Institution bleibt, muss man eine messerscharfe Krankenhausplanung exekutieren. Also die Krankenhäuser, von denen Herr Lauterbach spricht, müssen dann von den Ländern vom Markt genommen werden in der Krankenhausplanung – aufgrund der Feststellung, dass sie eben ganz bestimmte Leistungen nicht erbringen bzw. ganz bestimmte Anforderungen nicht erfüllen können. Und das alles muss auch exekutiert werden.
Was angesichts der aktuellen Debatte auf Länderebene unrealistisch ist…
Genau. Einige Länder haben längst deutlich gemacht, dass sie keine Eingriffe dieser Art zulassen. Ich war früher selbst mal als zuständiger Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für die Krankenhausplanung in Hamburg verantwortlich. Nach meiner Erfahrung wird niemand das in dieser Härte, die notwendig wäre, umsetzen. Stattdessen wird es Ausnahmen an allen Ecken und Enden geben, mit den interessantesten Begründungen – und die alle politisch motiviert sind.
Welche Folgen und Probleme bringt es mit sich, wenn ein Krankenhaus zukünftig einen großen Teil seines Budgets als Pauschalfinanzierung bekommt?
Wenn man institutionell alimentiert, muss man nach und nach immer mehr bürokratische Regeln einführen. Wie soll dieses Geld, das man als Pauschale an die Institution gibt, im Einzelnen ausgegeben werden? Dann muss man im Einzelnen genau beschreiben, wofür das Krankenhaus diese dieses Geld ausgeben soll. Das wird zu einer weiteren gewaltigen Bürokratisierung führen, nicht zu einer Entbürokratisierung.
Mit welchen Folgen für die Patienten?
Erstens müssten Patientinnen und Patienten, die insbesondere komplexe Leistungen in Anspruch nehmen werden, mit tendenziell längeren Wartezeiten rechnen. Ich hatte bereits erwähnt, dass wenn man in einem solchen System die leistungsunabhängige Komponente erhöht, dann kann ein Krankenhaus wirtschaftlich nur Erfolge erzielen, indem es tendenziell möglichst weniger Leistung erbringt. Für Patienten heißt weniger Leistung Wartezeiten in bestimmten Bereichen, Wartelisten, Verlängerung etc. Zudem bremst die institutionelle Finanzierung die postulierte neue Transparenz für den Patienten wieder aus. Nehmen wir einen Patienten, der in ein bestimmtes Krankenhaus gehen will, weil er dank Transparenz gehört hat, dort sei es besser. Nur hängt für das betroffene Krankenhaus das Geld nun nicht mehr an dem Patienten, denn er ist nicht mehr der Umworbene. Als Institution hat man das Geld bereits. Noch schlimmer: Jetzt sind solche Patienten diejenigen, die dem Krankenhaus zusätzliche Kosten verursachen.
Sie plädieren stattdessen dafür, das DRG-System weiterzuentwickeln. Wie soll das aussehen?
Das DRG-System ist damals eingeführt worden, weil die Diagnose das sicherste Kategorisierungselement ist. Deswegen spielt die Diagnose im Wesentlichen die zentrale Rolle in einem solchen Abrechnungssystem. Heute wissen wir aber, dass das allein nicht reicht und wir es weiterentwickeln müssen. So könnte man zum Beispiel Patientenbewertungen in bestimmte Diagnosen mit einfließen lassen. Wir könnten heute in bestimmten Bereichen auch Qualitätsmerkmale mit einfließen lassen. Das heißt also, wir könnten neben der Diagnose zusätzliche Bewertungskriterien einführen, die dann zu Einstufungen führen. Ich nenne das PRG-System, also Patient related Groups, weil es eine Ausweitung und Differenzierung über die Diagnose hinaus darstellen würde.
Reicht das?
Ich würde darüber hinaus einiges von dem in Frage zu stellen, was wir an Differenzierung im DRG-System eingeführt haben in den letzten Jahren. Wir sind nach meiner Erinnerung mal mit 750 Fallpauschalen gestartet und haben heute, wenn man alles zusammennimmt, rund 3500. Wir haben eine unglaublich kleinteilige Differenzierung vorgenommen, dort wieder zu mehr Pauschalisierung zu kommen wäre vernünftig. Bei einigen Diagnosen wie in der Endoprothetik, wo es in der Vergangenheit zu deutlichen Fehlentwicklungen gekommen ist, kann es zudem sinnvoll sein, verpflichtend zwei Bewertungssysteme einzuführen. Überall dort, wo wir in Deutschland erheblich mehr Operationen machen als in anderen Ländern, könnte so ein Instrument den Patienten mehr Sicherheit geben. Weil hinterfragt würde, ob tatsächlich eine Behandlung in dieser Interventionsweise wirklich notwendig wäre.
Würde das funktionieren ohne strukturelle Änderungen?
Es sind auch strukturelle Änderungen notwendig. Wir müssen bei der Grundversorgung viel stärker in Richtung Regionalisierung gehen und die Verknüpfung der verschiedenen regionalen Angebote stärker vorantreiben. Außerdem müssen wir das System in den Sozialbereich ausdehnen, insbesondere wenn wir eine stärke Ambulantisierung in diesen Bereichen bekommen. Häufig fallen gerade bei älteren Menschen Gesundheits- und Sozialleistungen zusammen. Deswegen könnte ich mir durchaus vorstellen, dass wir ein Capitation-System für die Grundversorgungselemente einführen und für die hochkomplexen medizinischen Leistungen ein weiterentwickeltes DRG-System.
Das aktuelle DRG-System bietet enorm viel Fehlanreize, weil sich die Erlöse stark an der Quantität der abgerechneten Leistung orientieren. So wird aus ökonomischen Gründen unnötig oft operiert, um Leistungen abrechnen zu können – und nicht selten verfügen Häuser und Operateure gar nicht über die medizinische Exzellenz, um bestimmte Eingriffe und Therapien erfolgreich vorzunehmen. Gerät da der Patient nicht komplett aus dem Blick?
Wenn man das Geld an die Leistung hängt, dann wird natürlich immer der Versuch gemacht, die Leistung zu steigern. Und deswegen muss man sich in einem solchen System sehr viele Gedanken machen, wie man unnütze Leistungen verhindert. Das ist richtig.
Um die Erlöse zu steigern, bleiben Krankenhäusern im aktuellen DRG-System nur wenige Optionen. Sie können quantitativ immer mehr Leistungen abrechnen, sich auf „lukrative“ Diagnosen spezialisieren und draufsetzen, dass die Fallzahl kontinuierlich steigt. Die Fallzahlen stagnieren jedoch aber seit Jahren. Kann das DRG-System in der jetzigen Form da überhaupt noch funktionieren?
Eines ist mir völlig klar: In dem Maße, in dem die ambulante Sicherung zunimmt, muss es zukünftig auch zu einem einheitlichen Finanzierungssystem kommen. Also es muss zu einem Aufeinanderzubewegen der verschiedenen, bisher völlig getrennten Finanzierungswege kommen. Bislang ist bei der Frage der Finanzierung der Übergang zwischen ambulanter und stationärer Therapie noch nicht vernünftig durchdacht, vieles ist Zukunftsmusik. Gerade aber für diese Entwicklung wären Capitation-Modelle interessant. Bei ihnen spielt die Frage ambulant oder stationär gar keine Rolle, sondern es wird intern auf der Leistungserbringerseite ausgemacht, wohin das Geld fließt. Das Geld würde als Kopfpauschale für die Menschen bezahlt, die zu versorgen sind. Das wäre eine Lösung, bedarf aber einer größeren Umstellung.
Inzwischen liegen die Eckpunkte für die Krankenhausreform vor, die Reform soll bis Jahresende finalisiert werden. Ist es nicht längst zu spät für solche Grundsatzdiskussionen?
Gerade die bisherigen Verständigungen im Finanzierungsteil bewegen sich auf außerordentlich dünnem Eis. Im Augenblick erhoffen sich alle von der Reform Vorteile. Nur glaube ich nicht, dass alle mit den Ergebnissen zufrieden sein werden. Es wird sehr schnell wieder Differenzierungen geben, gerade im Finanzierungsteil. Deshalb ist es mir wichtig zu sagen, dass wir nicht an der bisherigen Struktur festhalten müssen. Ich bin sehr dafür, gerade die komplexen Leistungen in weniger Standorten zu zentralisieren. Die Ambulantisierung gibt uns dafür eine große Chance und muss eine adäquate Finanzierung erhalten. Nur glaube ich nicht, dass eine Vorhaltefinanzierung dazu geeignet ist, so eine notwendige Veränderung zu erreichen. Deswegen sehe ich eine gewisse Chance, dass noch mal neu nachgedacht wird.
Quelle: Guntram Doelfs 2023.Thieme