Reformkonzept – „Krankenhäuser müssen nicht die erste Adresse sein“

Notfallzentren und integrierte Leitstellen sollen künftig eine schnellere und effektivere Versorgung garantieren. Das empfiehlt die Regierungskommission in ihrer neuesten Stellungnahme.

Patientinnen und Patienten in Deutschland sollen im Notfall künftig durch neue Leitstellen und Notfallzentren versorgt werden. Das geht aus Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung hervor, die am 13. Februar in Berlin vorgestellt wurden. Die oft unter großer Belastung arbeitenden Notaufnahmen der Krankenhäuser sowie die Rettungsdienste sollen so entlastet werden. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) kündigte an, Strukturen sollten aufgebrochen werden, Versorgung solle dort stattfinden, wo sie medizinisch sinnvoll sei. „Das Krankenhaus muss im Notfall nicht immer die erste Adresse sein.“ Aber es müsse schnelle Hilfe anbieten können.

Die Regierungskommission hatte im vergangenen Jahr Vorschläge für eine Klinikreform vorgestellt. Nun sieht sie unter anderem den Aufbau neuer integrierter Leitstellen (ILS) in ganz Deutschland vor. Hilfesuchende, die sich im Notfall an den Rettungsdienst unter der Notrufnummer 112 oder an den kassenärztlichen Notdienst unter der 116117 wenden, sollen künftig durch so eine Leitstelle eine erste telefonische oder telemedizinische Einschätzung bekommen. Auf deren Basis sollen sie einer passenden Notfallbehandlung zugewiesen werden. Durch die unmittelbare Erreichbarkeit rund um die Uhr, sollen die ILS „für Betroffene so attraktiv sein, dass sie primäre Anlaufstelle in medizinischen Notfällen werden“, teilt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit. 

Rund um die Uhr erreichbare Videosprechstunden

Zum Leistungsangebot gehören telemedizinische Beratung, Verordnung von Notfallmedikamenten, Verweis auf eine Vorstellung in entsprechenden Strukturen (reguläre (KV-)Praxis zu Öffnungszeiten, KV-Notdienstpraxis, INZ/Notaufnahme), die Entsendung eines aufsuchenden Dienstes, insbesondere für immobile Patienten, vulnerable Gruppen und zeitkritische Notfälle (u.a. Notfallrettung/Notarzt/, Krankentransport) sowie spezielle Dienste für vulnerable Gruppen (u.a. ambulante Palliativversorgung, psychosozialer Kriseninterventionsdienst). Zur telemedizinischen Beratung führt die Kommission in ihrer Stellungnahme aus, dass Leitstellen eine rund um die Uhr erreichbare allgemeinärztliche und kinderärztliche telemedizinische Beratung beziehungsweise Videosprechstunde einrichten müssen. Zweckmäßig sei auch der Aufbau spezialisierter Fächer wie Gynäkologie, Augen- und HNO-Heilkunde.

Neu geschaffen werden sollen nach den Vorstellungen der Expertinnen und Experten zudem sogenannte integrierte Notfallzentren (INZ). Sie sollen aus einer Notaufnahme eines Krankenhauses sowie einer Notfallpraxis niedergelassener Ärztinnen und Ärzte bestehen. Die Zentren sollen an den rund 420 deutschen Kliniken mit umfassender Notfallversorgung angesiedelt werden. Die Beteiligung der Kassenärztlichen Vereinigung als auch der Krankenhäuser am INZ sei verpflichtend. Damit sei sichergestellt, dass die Lasten gleich verteilt werden. Außerdem sollen integrierte Notfallzentren für Kinder- und Jugendmedizin (KINZ) an Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin sowie Krankenhäusern mit einer pädiatrischen Abteilung aufgebaut werden.

Für Pflegeberufe in den Notaufnahmen soll als Mindest-Personalausstattung ein verbindlicher Schlüssel festgelegt und bei der Gestaltung der Finanzierung berücksichtigt werden. Der Schlüssel soll perspektivisch auf Evidenz basiert und regelmäßig evaluiert werden. Verschiedene Fachgesellschaften empfehlen 1200 Behandlungsfälle pro Vollkraft und Jahr, heißt es. Zugleich dürften starre Personal-Patienten-Schlüssel nicht die Versorgung der Bevölkerung gefährden, etwa wenn diese aufgrund eines starken Anfalls von Notfallpatienten oder aufgrund von Fachkräftemangel nicht eingehalten werden können. 

Status quo

Vergangenes Jahr hatten viele Notaufnahmen und Rettungsdienste über Überlastung geklagt. So hatte ein Bündnis pro Rettungsdienst im Dezember gewarnt: „Wir laufen Gefahr, dass das System der Notfallrettung in Deutschland zusammenbricht.“ Immer wieder wurde festgestellt, dass Versicherte vor allem am Wochenende mit allerlei Beschwerden in eine Notaufnahme gehen.

Nach Angaben der Kommission nahm die Gesamtzahl der durch den KV-Bereitschaftsdienst und in den Notaufnahmen der Krankenhäuser behandelten Patienten (ambulant oder mit stationärer Aufnahme) von 24,9 Millionen im Jahr 2009 auf 27,8 Millionen im Jahr 2019 zu (+ 12 Prozent). Die Zahl der ambulant behandelten Patienten stieg dabei weniger stark an als die der stationär aufgenommenen Patienten. Die Zahl der in den Kliniken ambulant behandelten Hilfesuchenden nahm von 2009 auf 2019 um 24 Prozent zu (von 8,3 Millionen auf 10,3 Millionen), die der stationär aufgenommenen Hilfesuchenden um 33 Prozent (von 6,6 Millionen auf 8,8 Millionen), wie aus dem Bericht der Kommission hervorgeht.

„Insgesamt bedingen die momentanen Strukturen eine unnötige Gefährdung der Patientinnen – und Patientensicherheit bei gleichzeitig suboptimaler Effizienz des Ressourceneinsatzes“, so das Fazit der Kommissionsmitglieder. Das liegt unter anderem an dem Personalmangel im Bereich der Notaufnahme. So gibt es auch im Unterschied zu anderen Krankenhausabteilungen bislang keinen Fachabteilungsschlüssel für Notaufnahmen, ebenso wenig sind Pflegepersonaluntergrenzen festgeschrieben. Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Vorhaltekosten von Leistungserbringerseite nicht als ausreichend angesehen wird. Die Vergütung ambulanter Fälle in der Notfallversorgung sei bei höherer Komplexität der Fälle und besseren Akuttherapiemöglichkeiten im Krankenhaus häufig nicht kostendeckend.

Quelle: dpa/BMG/hgl