Krieg in der Ukraine, chinesische Drohungen gegen Taiwan, Eskalation in Nahost – längst tobt global ein neuer Konflikt der Systeme. Deutschland muss sich mit Terror und Kriegsszenarien beschäftigen. Doch das Gesundheitswesen ist dafür nicht gerüstet.
Es sind grauenhafte Bilder. Nur knapp eine Minute dauert das Video – und doch brennen sich die Bilder allen Zuschauern unerbittlich ins Hirn. Im alten Hörsaal des Unfallkrankenhauses Berlin ist es mucksmäuschenstill, als die Smartphone-Aufnahmen von zerstückelten Leichen, verbrannten menschlichen Kadavern und vergeblich um ihr Leben flehende junge Menschen über die Leinwand flimmern. Mitgebracht hat die schrecklichen Aufnahmen Elon Glassberg, oberster Sanitätsgeneral der israelischen Armee.
Glassberg ist an diesem Vormittag Mitte März Gast bei einer Fachtagung, im Hörsaal sitzen Ärzte, Führungspersonal von Krankenhäusern, IT-Cybersicherheitsexperten und auch hochrangige Offiziere des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Das Thema der Tagung, die vom Verein Gesundheitsstadt Berlin veranstaltet wird, ist die aktuelle Sicherheit kritischer Infrastrukturen im deutschen Gesundheitswesen und die Frage, ob dieses tatsächlich auf Bedrohungen wie große Terroranschläge und Krieg wirklich vorbereitet ist.
Jetzt merken wir, wie fatal eine solche Entwicklung war.
Viele im Raum kennen schwere Verletzungen bei Patienten, manche haben auch die Terroropfer vom Breitscheidplatz in ihrem Haus behandelt. Und doch erzählen die Bilder, die Glassberg vom Terrorangriff der Hamas aus dem vergangenen Oktober vorführt, von einer anderen Realität. Von unfassbarer Gewalt und Grausamkeit, aber auch von den immensen Herausforderungen, vor denen israelische Ärzte und Sanitäter in den Tagen des Angriffs gestanden haben.
So erzählt der gelernte Unfallchirurg, dass während der Terrorattacke nur zwei Krankenhäuser im Umfeld des Gazastreifens sofort Patienten hätten aufnehmen können. Eines wurde jedoch mit Raketen belegt und fiel größtenteils aus, in das andere Haus mit lediglich 24 Intensivbetten wurden binnen weniger Stunden fast 600 Verletzte eingeliefert, viele davon schwer. Dass dennoch fast alle der Verwundeten das überlebt haben, liegt an einem ausgefeilten Rettungssystem in Israel, das auf den Erfahrungen unzähliger kriegerischer Konflikte aufbaut.
Wandel der weltpolitischen Lage
Würde das deutsche Gesundheitswesen mit einem Anschlag in einer derartigen Dimension oder mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie in der Ukraine auch klarkommen? Wer an diesem Vormittag den Ausführungen der versammelten Experten kritisch lauscht, bekommt daran Zweifel. Man sei zwar auf Naturkatastrophen gut eingestellt, nicht aber auf kriegerische Konflikte, urteilt Dr. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin (ÄKB). „Jetzt merken wir, wie fatal eine solche Entwicklung war. Wir sind nicht gut vorbereitet.“
Dabei hat sich die politische Weltlage in den vergangenen Jahren grundlegend und dramatisch verändert. Der eskalierende Nahostkonflikt, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder das chinesische Säbelrasseln gegenüber Taiwan haben eine geopolitische Zeitenwende eingeläutet und sich zu einer Auseinandersetzung der politischen Systeme entwickelt.
Sie werden nicht früher oder später gehackt, Sie werden früher und später gehackt.
Für Generalmajor Andreas Henne, stellvertretender Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr in Berlin, hat der direkte Konflikt längst begonnen – wenn auch noch nicht der heiße Krieg. Politik und Gesellschaft müssten endlich erkennen, dass Europa seit Beginn des Krieges in der Ukraine nicht mehr im Frieden lebe. Wichtig sei nun die Vorbereitung auf den Ernstfall. „Wir müssen Pläne haben, wie wir unsere Verteidigung organisieren.“
Schon jetzt würden Einrichtungen der Bundeswehr oder auch wichtige Infrastruktur mit Drohnen ausgespäht, so der Militär. Und hybride Angriffsformen wie Desinformation im Internet und in Sozialen Medien sowie eine wachsende Anzahl von Cyberangriffen in den westlichen Ländern sollen die demokratischen Systeme destabilisieren, ergänzt Dr. Martin C. Wolff, Leiter des Internationalen Clausewitz-Zentrums an der Führungsakademie der Bundeswehr. Der zivile Wissenschaftler berät dort führende Generäle der Bundeswehr in Strategiefragen.
„Die Ukraine ist nicht der eigentliche Kriegsgegner. Wir sind es: Deutschland als Drehscheibe der Nato auf dem europäischen Kontinent“, sagt er. Zu den Zielen professioneller russischer Hacker würden längst auch Krankenhäuser zählen, warnt Wolff die Klinikmanager im Auditorium. „Sie werden nicht früher oder später gehackt, Sie werden früher und später gehackt“, sagt er und fordert deshalb, Investitionsentscheidungen für Cybersicherheit eine hohe Priorität einzuräumen.
Bundeswehr fordert bessere Vorbereitung auf Ernstfall
Generell sei es ein Trugschluss zu glauben, die Bundeswehr könne allein für die Gesellschaft und speziell für das Gesundheitswesen den Ernstfall vorbereiten, sagen die Bundeswehr-Offiziere. Alle – besonders auch die Krankenhäuser – seien aufgefordert, sich gezielter auf den Ernstfall vorzubereiten. Und die Politik müsse sicherstellen, dass der regulatorische Rahmen, die Zuständigkeiten und die Verfahrensweisen klar und eindeutig geklärt seien, mahnt Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, als Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr der ranghöchste Sanitäter der Truppe.
„Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, denn wir müssen uns auf ein mögliches Zukunftsszenario vorbereiten. Ein Szenario, dass aussehen könnte wie derzeit in der Ukraine“, sagt Baumgärtner. Er erinnert auch daran, dass Deutschland in einem kriegerischen Konfliktfall zum Aufmarschgebiet für Truppen der Nato-Partner werde, die ebenfalls versorgt werden müssten. „Deswegen ist mir wichtig, dass wir möglichst bald ein Gesundheitsvorsorgeund Sicherstellungsgesetz bekommen“, so der Inspekteur gegenüber kma.
Dieses sei wichtig, um viele entscheidende Herausforderungen zu adressieren. „Wir brauchen Transparenz über die verfügbaren Kapazitäten – und dies möglichst in Echtzeit. Wir müssen in der Lage sein, Patientenströme zu koordinieren, wir müssen die notwendigen Daten nachhalten können und vieles weitere mehr. Ohne dieses Gesetz sind alle unsere Bemühungen nur Stückwerk“, mahnt Baumgärtner. Nun weiß aber auch ein leitender Bundeswehrgeneral um das politische Minenfeld zwischen Bund und Ländern, in das man bei Debatten über Entscheidungen und Vorgaben für das Gesundheitswesen schnell geraten kann.
Forderungen nach mehr Resilienz der Krankenhäuser müssen auch entsprechend finanziert werden.
Auf die Nachfrage von kma, ob er sich ebenso weitgehende Entscheidungsbefugnisse für den Ernstfall wünsche, wie sie sein israelischer Kollege Glassberg habe, antwortet Baumgärtner betont vorsichtig. Ihm sei wichtig, dass die notwendigen Dinge geregelt werden würden – und dies ginge nur in enger Kooperation mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen. In Israel hingegen steht der oberste Sanitäter im Katastrophen- oder Kriegsfall mit an der Entscheidungsspitze und darf auch zivilen Einrichtungen Befehle erteilen, um die Entscheidungskette klein, schnell und effektiv zu halten.
Mindestvorgaben für Kliniken
Gleichwohl möchte Baumgärtner in dem angesprochenen Gesetz Mindeststandards für den Ernstfall für Krankenhäuser geregelt sehen. „Wir müssen darin klare Mindestvorgaben setzen“, fordert der General. Darunter versteht er Vorgaben für die Notstromversorgung, Vorhaltung von Blutreserven, Medikamente und vieles weitere mehr. Die kleine Spitze seines Kameraden Henne, der bei seinem Vortrag laut darüber nachdachte, ob es angesichts der Debatte um die strategische Kriegsfähigkeit des Landes jetzt eine clevere Idee sei, im Zuge der Krankenhausreform die Zahl der Krankenhäuser zu reduzieren, greift Baumgärtner nicht auf. Die Krankenhausreform sei nicht Baustelle der Bundeswehr.
Wie wichtig gezielte Vorgaben über ein Gesetz sein könnten, zeigen teilweise verheerende Ergebnisse von jüngsten Katastrophenübungen in Kliniken. In einigen Häusern sprangen nach Aussagen von Experten auf der Tagung die Notstromaggregate gar nicht erst an, anderen fehlte es an Diesel, auch wichtige Versorgungsgüter waren nicht immer ausreichend vorhanden. Derzeit würden viele Krankenhäuser einen Ernstfall nicht länger als 48 Stunden durchstehen, wird denn auch von hinter vorgehaltener Hand von Verantwortlichen eingeräumt. Vom föderalen Kompetenzgerangel sei da noch gar nicht die Rede.
An der Spitze der Notfallkette muss es eindeutige Verantwortlichkeiten geben.
Für manche Klinikverantwortliche klingt solche Kritik hingegen nach übertriebenen Schlechtreden der Gesundheitsbranche. Sie halten deutsche Krankenhäuser grundsätzlich organisatorisch wie auch regulatorisch für gerüstet. ukb-Chef Professor Axel Ekkernkamp verweist auf die guten Erfahrungen während der Pandemie, wo binnen kürzester Zeit ein Intensivbettenregister und die Verteilung der Patienten improvisiert und organisiert worden sei. Auch der Terroranschlag an der Gedächtniskirche hätte die Berliner Kliniken nicht vor größere Probleme gestellt, ergänzt André Solarek, Leiter der Stabsstelle Katastrophenschutz und Notfallrettung der Charité. Die Ereignisse hätten gezeigt, dass Ärzte, Pflegekräfte, Sanitäter und alle anderen Beteiligten im Ernstfall gut improvisieren können, so Solarek.
Er sieht Probleme eher im aktuellen Zustand der Infrastruktur, sowohl im technischen, baulichen wie auch im personellen Bereich. Wenn es nun Forderungen nach mehr Resilienz seitens der Krankenhäuser gebe, müsse das auch entsprechend finanziert werden. Zudem müssten „Themen, über die wir die vergangenen zwanzig, dreißig Jahre nicht geredet haben, wie Sicherheit oder taktische Medizin, in die Ausbildung integriert werden“, sagt er. Hier seien die Fachgesellschaften in der Bringschuld.
Wie sieht Elon Glassberg das deutsche Vertrauen auf die Improvisation? „Bei der direkten Versorgung der Verwundeten ist Improvisieren durch Ärzte und Sanitäter sicher richtig und wichtig“, sagt er auf direkte Nachfrage von kma: „An der Spitze der Notfallkette muss es hingegen klare und eindeutige Verantwortlichkeiten geben, um schnell reagieren zu können. Wenn sie da improvisieren, werden sie scheitern.“
Quelle: Guntram Doelfs 2024. Thieme