VorhaltevergĂĽtung 2.0 – Konzept zwischen Vision, Dystopie und Happy End

Hoher Aufwand, unerfüllte Erwartungen – das könnte die Reform der Krankenhausvergütung mit sich bringen. Die Autoren zeigen Alternativen auf, die weniger komplex, aber durchaus anschlussfähig zu den bisherigen Planungen sind.

Die Vorhaltevergütung wurde bislang stets zu einem zentralen Element der geplanten Krankenhausreform erklärt. Schon in der dritten Stellungnahme der Regierungskommission vom Dezember 2022 war sie neben Leveln und Leistungsgruppen der dritte große Baustein eines visionären Reformkonzepts.

Dem Begriff nach handelt es sich bei der Vorhaltevergütung um eine Honorierung einer Leistung, die erbracht wird, ohne dass sie zwingend in Anspruch genommen wird. Es entstehen Kosten für die pure Vorhaltung von Personal, Ausstattung und Infrastruktur. Bei vielen stationären Leistungen ist es wichtig, dass nicht nur die tatsächliche Versorgung im Krankheitsfall, sondern auch die potenzielle Versorgung im Bedarfs- und Notfall gesichert ist. Solche Optionsgüter erbringen einen nicht-nutzungsabhängigen Vorteil für die Versicherten. Am deutlichsten wird dies an Beispielen wie der Notaufnahme oder der Geburtshilfe, die sehr personalintensiv sind, auch wenn in einem Krankenhaus nur relativ wenige Notfälle aufgenommen werden oder Geburten stattfinden. Die Fachkräfte sind entsprechend eher schwach ausgelastet.

Siedlungsdichte wird nicht bedacht

Ein auf Fallpauschalen basierendes Vergütungssystem deckt die Kosten der Vorhaltung über die Zahl der Fälle. Dies impliziert, dass bei zu geringen Fallzahlen die Kosten der Vorhaltung nicht gedeckt werden und Abteilungen finanziell defizitär bleiben. Dies trifft nicht nur kleine Krankenhäuser in peripheren Regionen, sondern auch Maximalversorger mit hochspezialisierten Angeboten. Per se kann eine systemische Unterfinanzierung kleiner Leistungseinheiten auch dahingehend positiv interpretiert werden, dass damit ein Anreiz zur Konsolidierung gesetzt wird. Das Problem ist jedoch, dass hierbei nicht zwischen Regionen differenziert wird, in denen ein Überangebot besteht und solchen, in denen aus Gründen einer geringen Siedlungsdichte sogar ein „Monopolist“ nicht hinreichend viele Fälle erbringen kann, um wirtschaftlich zu arbeiten. Der starke Anreiz, die Fallzahl zu erhöhen, führt zudem auch zum Risiko der Überversorgung mit wirtschaftlich attraktiven Leistungen.

Eine Reform der Vergütung hin zu einem modularen Aufbau aus fallbasierten Vergütungselementen und einer die Kosten der Vorhaltung adressierenden Vergütungskomponente kann hier Abhilfe schaffen. Der Mengenanreiz wird gemindert, der wirtschaftliche Erfolg ist weniger von zufälligen Kontextfaktoren wie der Bevölkerungsdichte abhängig. 

Die Vorhaltevergütung soll zusätzlich ein aktives Steuerungselement für die Krankenhausplanung der Länder und der Krankenhausträger sein. 

In der Zwischenzeit werden der Vorhaltevergütung jedoch noch zahlreiche weitere Ziele zugeschrieben. So soll sie aktives Steuerungselement für die Krankenhausplanung der Länder werden, die – wie auch die Krankenhausträger selbst – dadurch motiviert werden sollen, mutiger als bisher die Konsolidierung der Krankenhausstruktur voranzutreiben. Sie soll Maximalversorger wie kleine ländliche Versorger wirtschaftlich sanieren oder ganz grundsätzlich eine „Entökonomisierung“ des Krankenhaussektors herbeiführen. Dies alles zudem budgetneutral. Eine Utopie?

Der aktuelle Stand

Der Blick auf die bisher bekannten Details auf Basis des Eckpunktepapiers vom Juli 2023 und des im September 2023 kursierenden „Arbeitsstands“ der Redaktionsgruppe von Bund und Ländern lässt einige Punkte offen. Bei anderen Punkten wird es aber auch schon sehr konkret.

Mechanismus der VorhaltevergĂĽtung

Drei Ebenen sind zu unterscheiden

Beteiligung der Kostenträger

Wie wird ermittelt, zu welchen Teilen sich ein Kostenträger an dem
Gesamtaufkommen der VorhaltevergĂĽtung zu beteiligen hat?
 

Abwicklung der Auszahlung

Wie kommt das Geld vom Kostenträger zum Krankenhaus?
 

Zuteilung auf Krankenhausstandorte

Wie wird ermittelt, welchen Betrag an VorhaltevergĂĽtung jeder
Krankenhausstandort (ggf. je Leistungsgruppe) erhält?
 

Drei Punkte erscheinen zentral: Erstens erfolgt die Bemessung der auf einen Krankenhausstandort entfallenden Vorhaltevergütung als Prozentsatz des Casemix und ist damit direkt an die Fallzahl (der Vergangenheit) gekoppelt. Damit löst sich die Umsetzung komplett vom originären Gedanken einer fallzahlunabhängigen Vergütung von Vorhaltekosten. Das Resultat ist frappierend: Bei konstanter Fallzahl ändert sich am wirtschaftlichen Ergebnis eines Krankenhauses – nichts. Es realisiert exakt den gleichen Erlös wie unter DRG-Bedingungen.

Was die öffentliche Diskussion – neben den fehlenden belastbaren offiziellen Aussagen zum Stand der Konzeptarbeit – an diesem Punkt vernebelt, ist dass einige Kostenträger durchaus ein Interesse an einer Casemix-basierten Bemessung der Vorhaltevergütung haben. Diese beziehen sich aber nicht auf die Zuteilung auf Ebene der Krankenhäuser, sondern darauf, wie die Lasten für die Vorhaltevergütung zwischen den Kostenträgern verteilt werden sollen. Dies ist eine grundsätzlich unabhängig zu diskutierende Fragestellung, die jedoch ebenso viel Aufmerksamkeit verdient wie auch die Frage des Auszahlungsmechanismus.

Komplex, bürokratisch, aufwändig

Dies führt direkt zu Zweitens: Es wird komplex. Es wird bürokratisch. Es wird aufwändig. Für alle. In der Vorperiode sind die erwarteten Budgets zu kalkulieren – je Leistungsgruppe, je Standort. Das InEK (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) muss die entsprechenden Bewertungsrelationen ermitteln, die Länder die Leistungsgruppen melden. In der Auszahlungsperiode fließt die Vorhaltevergütung gekoppelt an die reguläre Krankenhausrechnung. Auf Antrag kann jedoch – bei glaubhafter Darlegung einer Unterdeckung im Jahresverlauf von mehr als 10 Prozent – ein Zuschlag auf die noch ausstehenden Erlöse beantragt werden. In der nachlaufenden Periode sind die notwendigen Ausgleichsbeträge zu ermitteln und wieder über Zu-/Abschläge zu den regulären Zahlungen abzugelten. Sofern Leistungsgruppen unterjährig ausscheiden oder hinzukommen, sind weitere Korrekturen notwendig.

Zunächst soll die Berechnung des InEK pauschal in Höhe von 60 Prozent – nach Abzug der variablen Sachkosten und im Abgleich mit dem Pflegebudget – erfolgen. Die Komplexität der angestrebten sachgerechten Berechnung je DRG wird deutlich, wenn man bedenkt, dass das InEK erst bis 2029 erstmalig ein Konzept für die einheitliche Definition von Vorhaltekosten vorzulegen hat. 

Nach aktuellem Stand ist nicht ersichtlich, woraus sich diese Anreize ergeben könnten. 

Drittens bleiben noch die erhofften Anreize, welche durch die Einführung der Vorhaltevergütung zur Konsolidierung der Krankenhausstruktur gesetzt werden sollen. Nach aktuellem Stand ist nicht ersichtlich, woraus sich diese Anreize ergeben könnten. Auch das DRG-System incentiviert bereits eine Konsolidierung, ein zusätzlicher Anreiz ergibt sich aktuell nicht oder wird von der Komplexität des Ansatzes hinreichend gut überlagert.

Zusammengefasst erscheint bei der sich aktuell abzeichnenden Implementierung dem deutlichen Zusatzaufwand ein nur sehr begrenzter Nutzen gegenĂĽber zu stehen.

Ăśber die Autoren Prof. Dr. Andreas Schmid

Andreas Schmid ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Bayreuth und Manager bei der Oberender AG. Neben anderen ehrenamtlichen Aktivitäten ist er ferner Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung und unparteiisches Mitglied im Sektorenübergreifenden Landesschiedsgremium Thüringen.

Prof. Dr. Jörg Schlüchtermann

Jörg Schlüchtermann ist Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre und Studiengangmoderator für die Studiengänge zur Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth. Zu den Schwerpunkten seiner Tätigkeit zählt die Thematik Erlöse und Kosten in Krankenhäusern.

Prof. Dr. Volker Ulrich

Volker Ulrich ist Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, insb. Finanzwissenschaft an der Universität Bayreuth, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesamts für Soziale Sicherung (BAS) zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs. Er veröffentlichte unter anderem Gutachten zu Fragen der Finanzierung von Gesundheitssystemen.

Die pragmatische Lösung

Nochmals sei an dieser Stelle betont, dass der Grundgedanke einer Vorhaltevergütung durchaus sinnvoll ist. Entsprechend stellt sich die Frage nach einer alternativen Implementierung, die aufwandsärmer umzusetzen ist und mehr der erhofften Potentiale zu heben erlaubt.

Eine konkrete Option stellt eine tatsächlich mengenunabhängige Vorhaltevergütung dar. Diese könnte sich an den Kosten orientieren, die für die Behandlung des ersten Patienten in einer Leistungsgruppe anfallen. Das heißt: welche Personalausstattung, welche Geräteausstattung etc. wird benötigt, um überhaupt den Betrieb aufnehmen zu können (ohne die investitionskostenrelevanten Aspekte – dies bleibt im Aufgabenbereich der Länder). Bei komplexen Leistungsgruppen, die viele verschiedene Fachbereiche und Professionen erfordern, ist der entsprechende Betrag höher, bei einfachen niedriger. Allein wird er kleine Einheiten nicht in die Gewinnzone führen, aber er reduziert die strukturelle Benachteiligung, während ein grundsätzlicher Konsolidierungsanreiz bestehen bleibt. Für bedarfsnotwendige Einrichtungen können bei Erfüllung entsprechender Kriterien weitere Zuschläge gewährt werden, welche diesen einen wirtschaftlichen Betrieb erlauben. 

Der Anreiz zur Mengenausdehnung wird gemildert, der administrative Aufwand sinkt deutlich. 

Eine objektiv wahre Größe wird sich auch bei diesem Ansatz nicht ermitteln lassen. Der als Vorhaltevergütung auszuzahlende Betrag wird letztlich normativ festgelegt und kann – je nach der gewünschten Anreizwirkung höher oder niedriger ausgestaltet werden. Der Anreiz zur Mengenausdehnung wird gemildert, ein Leistungsanreiz bleibt aber erhalten. Weder sind Prognosen zu Fallzahlen noch fallzahlbezogene Korrekturbuchungen ex post erforderlich, der administrative Aufwand sinkt deutlich.

Und es gibt nun auch für den Krankenhausplaner und die Träger Szenarien, die einen starken Anreiz zur Konsolidierung setzen könnten. Während bei der Orientierung an den Fallzahlen die Schließung einer Leistungsgruppe oder eines Standortes quasi automatisch eine Neuverteilung der Vorhaltevergütung gemäß der Patientenströme nach sich ziehen würde, kann beim skizzierten Vorschlag „Verfügungsmasse“ geschaffen werden. Wird die Summe der Vorhaltebudgets je Bundesland (zunächst) konstant gehalten, werden bei Auflösung einer Leistungsgruppe oder eines Standortes die zugehörigen Budgets frei. Diese könnten – gegebenenfalls zweckgebunden und zeitlich begrenzt – für die Stärkung anderer Leistungsgruppen oder Standorte genutzt werden. Das heißt, die durch die Konsolidierung freigesetzten Mittel können in der Region frei genutzt werden und erhöhen den Handlungsspielraum der Länder.

Perspektivisch sind viele Optionen der Weiterentwicklung denkbar. Kurzfristig erscheint der Vorschlag eine pragmatische, relativ aufwandsarme und vergleichsweise risikoarme Option für die Etablierung einer Vorhaltevergütung zu eröffnen.

Quelle: Prof. Dr. Andreas Schmid (Oberender AG), Prof. Dr. Jörg Schlüchtermann und Prof. Dr. Volker Ulrich (beide Universität Bayreuth) 2023. Thieme.

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